Bruno Müller-Oerlinghausen (BMOe) hat sich in den vergangenen Jahren bei verschiedenen Gelegenheiten kritisch zu dem derzeitigen Verordnungsvolumen von Antidepressiva (AD) geäußert (642b; 651; vgl. auch den Abschnitt TV-Beiträge), so z.B. in seinen alljährlichen Beiträgen zum Arzneiverordnungsreport. (Hrsg. U.Schwabe/D.Paffrath) Seine diesbezügliche Positionierung hat sich jedoch erst allmählich entwickelt.
In den 70er/80er Jahren hat er sich, wie an anderer Stelle schon dargestellt mit AD im Rahmen klinischer Prüfungen beschäftigt (z..B. 35; 43; 46; 57; 74; 87) und ganz allgemein mit der Methodik klinischer Prüfung von Antidepressiva (z.B. 53; 334; 371; 393 u.a.; vgl. auch den Abschnitt Methodik/Ethik). Die Laborarbeit im Rahmen des TDM (vgl. den entsprechenden Abschnitt) schloss natürlich auch die Bestimmung der Serumspiegel von AD und deren adäquate Interpretation mit ein. Dazu gehörten auch Studien, die der Frage galten, inwieweit das TDM zu einer klinischen Optimierung der antidepressiven Therapie beitragen kann. (76; 155; 346; 355; 363; 405)
In der von ihm aufgebauten Depressionsambulanz der Freien Universität Berlin, der Berliner Lithium-Katamnese, hatte BMOe täglich Gelegenheit, an seinen Patienten die positiven und negativen Effekte, insbesondere die nicht selten ausbleibende Wirksamkeit von AD zu studieren. Dabei ist er aus verschiedenen Gründen in der praktischen Therapie eher €žkonservativ geblieben, indem er z.B. gerne Nortriptylin unter Kontrolle der Serumspiegel einsetzte.
Sein Argument: Ich weiß hier als Pharmakologe, was ich tue, und das Nebenwirkungsrisiko ist geringer. Er scheute sich freilich auch nicht, bei bestimmten€ Patienten Johanniskraut einzusetzen und bettet dann seine Verordnung in placebomächtige Zaubersprüche ein. Viele Patienten, die ihm von anderen Kollegen als angeblich therapieresistent€ überwiesen wurden, befreite er erst einmal von den verschiedensten fantasievollen psychotropen Cocktails und versuchte, sie eine Zeitlang in medikamentenfreiem Zustand zu beobachten. Seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, an die er alle noch heute mit großer Dankbarkeit denkt, hielt er dazu an, klare Therapieziele bei ihren Patienten zu formulieren , die jeweils gewählte Therapie rational zu begründen und , soweit möglich, schon vorab Alternativen bei eventueller Non-response zu bedenken. Auch den Medizinstudierenden versuchte er diese Prinzipien nahe zu bringen. Wichtig war ihm auch, dass die Langzeit-Patienten regelmäßig auf ihren körperlichen Zustand untersucht wurden. Er beriet seine eigenen Patienten sehr konkret bezüglich des Umgangs mit Schlafproblemen, Sexualstörungen etc. oder führte ihnen persönlich praktische Üœbungen gegen chronische Rückenschmerzen vor.
Die Nebenwirkungen und Risiken von AD gehörten schon bald, insbesondere im Rahmen von AMÜP und AMSP (vgl. den entsprechenden Abschnitt) und in der Kooperation mit PD Dr. Lutz Schmidt zu seinen Forschungsfeldern. ( 62; 100; 174; 176; 401) Nachdem neuere AD auf den Markt gekommen waren, wurde deren tatsächliches Nutzen-Risiko-Verhältnis zunehmend zum Thema, auch im Kontext seiner Arbeiten für die AKdÄ (vgl. den entsprechenden Abschnitt; 200; 238; 253; 320) und gemeinsam mit Peter Schönhöfer. (210) . Am Beispiel des Rückrufs von Nomifensin (226) explizierte BMOe, dass es dem Hersteller nicht darum ging, die zweifellos vorhandene amphetaminartige Aktivität dieses AD für spezielle Indikationen nutzbar zu machen, sondern diese erst hartnäckig zu leugnen und dann, nachdem es zu Sicherheitsproblemen bei der breiten Anwendung gekommen war, die Substanz lieber ganz vom Markt zu nehmen.
In den 80er/90er Jahren entstanden verschiedene Studien und Publikationen, die sich der Anwendung von Antidepressiva in der nervenärztlichen Praxis widmeten. Dies geschah im Kontext der von Prof. Michael Linden an der Psychiatrischen Klinik inaugurierten Phase-IV-Forschung, die einen Teil echter Versorgungsforschung darstellt. (145;168) Z.B. stellte sich heraus, dass in diesem Setting offensichtlich auch niedrigere Plasmaspiegel von Antidepressiva als sonst gefordert noch wirksam waren. (155); auch die praktische Bedeutung von Kombinationstherapien (121) war ein Thema. Welche Folgen unerwünschte Arzneimittelwirkungen bei ambulanten Patienten haben, wurde gemeinsam mit der Linden-Gruppe und mit den Vertretern von AMÜP untersucht. (188; 197; 238; 266). Ab 1990 galt das Interesse zunehmend dem Vergleich verschiedener Antidepressiva, neuer und älterer, auf der Basis ihres Nebenwirkungsprofils. (320). Thematisiert wurde schon in dieser Zeit die Frage, ob die neueren Substanzen tatsächlich echte Vorteile hatten. ( 200; 210) . Eine Dissertation beschäftigte sich mit dem Erscheinungsbild und der Behandlung von Vergiftungen durch Antidepressiva. (325)
Die Fehlanwendung von Antidepressiva bei Suchtkranken wurde schon 1990 bearbeitet (328) und wurde 20 Jahre später noch einmal Thema einer Dissertation, die speziell der Rolle von AD bei Alkoholkranken galt.
Die Non-Compliance depressiver Patienten und ihre Gründe wurde über 6 Jahre in der Doktorarbeit einer Wiener Kollegin untersucht. (502)
Das Interesse der Berliner Gruppe galt jedoch nicht nur der medikamentösen Therapie, sondern sie beschäftigte sich an der Klinik und in Zusammenarbeit mit einer Biochemikerin der Bonner Psychiatrischen Klinik (Prof. Marie Louise Rao ) intensiv mit den klinischen und biochemischen, insbesondere auch den serotonergen Effekten einer antidepressiven Lichttherapie.(331; 336; 342; 344; 348; 352; 360) Auf der anderen Seite wurde BMOe auf dem Hintergrund verschiedener Laborexperimente der seit Jahrzehnten postulierte Zusammenhang zwischen Depression, Antidepressiva und an peripheren Markern gemessener serotonerger Aktivität immer zweifelhafter. ( Vgl. Abschnitt Lithium)
In den 90er Jahren beteiligte sich auch die Berliner Lithium-Katamnese an der von Prof.W.Greil (München) geleiteten kontrollierten AMP-Studie, die dem Vergleich von drei Langzeitmedikationen : Amitriptylin, Carbamazepin und Lithium galt. (377) Ein Ergebnis, das die Berliner Gruppe besonders beeindruckte, war, dass sich suizidale Handlungen eindeutig häufiger in den Nicht-Lithium-Gruppen ereigneten,- unter den Lithium-behandelten Patienten fand sich kein einziger Suizid. (434).
Es mögen diese Befunde und seine anhaltende Beschäftigung mit den UAW von AD und anderen Psychopharmaka gewesen sein wie auch die Erfahrung, wie langsam und gegen welche Widerstände sich die zunehmend deutlicher werdenden Befunde zur antisuizidalen Wirksamkeit von Lithium in der psychiatrischen Praxis durchsetzten, die ihn langsam zu einer zunehmend kritischer werdenden Bewertung der seit den 90er Jahren stetig steigenden Verordnungen von v.a. SSRI-AD führten. In einem Symposion der BÄK zur Behandlung chronischer Schmerzen 1995 wies er kritisch daraufhin, dass im Gegensatz zu den trizyklischen Substanzen für die neuen AD bei dieser Indikation praktisch keine Erkenntnisse vorlagen.(403) Im gleichen Jahr nahm er in einem Gutachten für die Bundesoberbehörde zu einem neuen SSRI-AD Stellung und riet von der Zulassung ab wegen einerseits mangelhaft belegter Wirksamkeit, andrerseits des Verdachts auf erhöhte Suizidalität als Nebenwirkung. 1998 erschien der irritierende Artikel von Kirsch und Sapirstein “Listening to Prozac but hearing placebo€”, der grundsätzliche Zweifel an der über Placebo hinausgehenden Wirkung von AD weckte. David Healy und andere , z.B. Fergusson (2001) machten wahrscheinlich, dass SSRI-AD Suizidimpulse triggern konnten. (482; 602; 632; 660) Die Panorama-Sendung beim BBC machte ein größeres Publikum darauf aufmerksam, zeigte, dass v.a. Kinder und Jugendliche davon betroffen waren und verdeutlichte, wie die Pharmaindustrie versucht hatte durch Umcodierung der Spontanmeldungen diese Tatsache aus der Welt zu schaffen.
Sexualstörungen unter Psychopharmaka, insbesondere auch SSRI-AD waren Teil-Thema einer Dissertationsarbeit. (560)
2005 wurde im Deutschen Ärzteblatt das Ergebnis einer von BMOe veranlassten Recherche des UAW-Ausschusses der AkdÄ zu den suizidprovozierenden Eigenschaften von SSRI-AD publiziert, die Irritation hervorrief, andrerseits von einem großen Teil der deutschen Nervenärzte nicht sonderlich beachtet bzw. von interessierten Fachkreisen antagonisiert wurde, --weil nicht sein kann, was nicht sein darf--. 2005 erschien im €žarznei-telegramm€ ein kritischer Artikel, der Nutzen und Risiko von SSRI-AD neu bewertete. Ein zustimmender Leserbrief von BMOe an das a-t führte dazu, dass er von einigen psychiatrischen Meinungsbildnern bedrängt wurde, dieses Schreiben zu revozieren.
Gemeinsam mit einer Kollegin der AKdÄ -Geschäftsstelle wurde 2012 das Ergebnis einer sorgfältigen Literaturübersicht veröffentlicht, die den Einsatz von Antidepressiva in der Palliativmedizin mangels ausreichender Evidenz sehr kritisch bewertete. Auch dieser Artikel löste Proteste in Fachkreisen aus.
Nachdem die nervenärztliche Fachgesellschaft DGPPN, aufgeschreckt durch einen kritischen Fernsehbeitrag über Nutzen und Schaden von AD (vgl. tv-Beiträge) , eine irreführende Pressemeldung verbreitet hatte, wonach angeblich das Suizidrisiko durch Antidepressiva gesenkt wird, widersprachen Bschor und BMOe auf der Basis veröffentlichter Studien dieser irritierenden Fehlmeldung.(658).
Der absichtlich durch den psychiatrisch kranken Copiloten herbeigeführte Flugzeugabsturz und die Entdeckung, dass ihm Mirtazapin verordnet worden war, bot Gelegenheit, nochmals die Öffentlichkeit auf die potentiellen suizidogenen und aggressiogenen Effekte insbesondere neuerer Antidepressiva aufmerksam zu machen. (s. Abschnitt tv-Beiträge, erster Beitrag)
Inzwischen ist durch die Arbeiten von Kirsch und Turner , aber auch des IQWIG und anderer Institutionen,einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden, dass die pharmazeutischen Hersteller durch eine trickreiche Publikationsstrategie es geschafft haben, über lange Zeit die Ärzteschaft und auch die Zulassungsbehörden über die die geringe Wirksamkeit der Antidepressiva im Vergleich zu Placebo und damit ihr wahres Nutzen-Risiko-Verhältnis zu täuschen. (642a). Deshalb wird auch in den meisten Leitlinien, dem britischen Beispiel folgend, die Empfehlung gegeben, Antidepressiva nicht als Mittel erster Wahl bei leichteren Depressionen einzusetzen. (642b) . Diese Position hat die AKdÄ, schon in einer früheren Therapieempfehlung zur Depressionsbehandlung vertreten. Im Rahmen der AG “Psychiatrie” bei der AkdÄ wurde eine kritische Stellungnahme zur praktischen Bedeutung derzeit auf dem Markt angebotener pharmakogenetischer Tests zur Voraussage von Antidepressiva- Response erstellt.
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